Kuriositäten

Koa-Wiesn-Zeit und Palmenwiesn 2020

Koa-Wiesn-Zeit und Palmenwiesn 2020

Die Koa- oder Nicht-Wiesn-Zeit beginnt am 13. Juli 2020, eigentlich schon vorher, mit dem Entschluss der Landes- und Stadtregierung: „Das Oktoberfest 2020 fällt aus!“ Man wusste das in München ja bereits seit Mai, doch so richtig bewusst wird einem diese Tatsache erst, wenn der Oktoberfestaufbau wirklich nicht stattfindet. Keine Handwerker und Bauarbeiter kommen ab Mitte Juli auf die Theresienwiese, keine bunten und teils alten, fast historischen Lastwagen liefern die Zelt- und Dekorationsteile an. Ein gelblicher Lastwagenanhänger mit einer ausgeblichenen Bärenmarkewerbung aus den 60er oder 70er Jahren hatte es mir immer besonders angetan. Ein Hauch von Nostalgie und Schaustellerleben aus einer anderen Zeit hing dann in der Luft über der Theresienwiese.

Die Zeltfundamente werden dieses Jahr nicht ausgegraben, die Schotterfläche, welche keine Wiese ist und dennoch Theresienwiese heißt, bleibt unberührt, öd und leer. Ein paar seltsame Einrichtungen auf der weiten Fläche sollen die Nicht-Wiesn-Zeit 2020 den Münchner Bürgern verschönern, so ein eigenartiges Arrangement von 10 Palmen, welche in Sandhügeln stecken, quasi ein Palmenstrand im Schottermeer. Es gibt ein paar grüne Sitzkissen unter den Palmen – sicherheitshalber angekettet – mit Blick auf die Bavaria, aber weit und breit keine Strandbar oder irgendeine Bude um etwas zu trinken zu kaufen. So sitzt man auf dem Trockenen, im Schottermeer, im wahrsten Sinne des Wortes und muss sein Wasser, sein Bier und seinen Drink selbst mitbringen. Bloß keine Gaudi aufkommen lassen! Oder etwa mit aufkommenden Urlaubsgefühlen ein Corona Bier unter den Palmen trinken, in virusgeplagten Zeiten? Das geht überhaupt nicht!

In weiter Entfernung, ca. 300 Meter in Richtung U-Bahnhof Theresienwiese seht eine Eisbude mit Softeis doch sehr verloren mitten im Meer aus Schotterflächen und Asphaltbahnen. Ein paar Fähnchen wehen im Wind, zwei orangefarbene Liegestühle leuchten von Weitem. Eine überdimensionale Eistüte aus Kunststoff zeigt an, was es da zu kaufen gäbe. Aber der Weg ist weit, zu weit um ihn bei heißem Wetter zu überwinden.

Erhebt man sich von einem der grünen Kissen, ist der Schattenplatz unter der Palme zudem auch weg. Andere warten schon darauf sich auf der sandigen Palmeninsel inmitten aller Trostlosigkeit niederzulassen. Auch ohne Getränk oder Eis am Stiel. Etwas näher auf der komplett leeren Wiesn steht eine Bude mit Crepes und Mandeln, Zuckerlollies und Süßkram in jeder Form, doch bei über 30 Grad auch nicht gerade einladend. Wasser wäre jetzt wichtiger! Eiskaffee soll es dort geben und sehr lecker soll er sein, bekomme ich zu hören, aber auch die Strecke dorthin erscheint zu weit. Eine einzelne Biergarnitur steht dort in der Sonne, ein angeknackster Sonnenschirm daneben, zwei windgebeutelte orangefarbene Sonnenstühle wehen leer vor sich hin. Orange soll wohl ein bisschen aufmunternd wirken in diesem Jahr? Es sind vielleicht 250m in Richtung Bavaria bis man auf die Crepes Bude trifft, aber auch dann ist der Palmenschattenruheplatz weg, bis man zurückkommt, das ist sicher.

Einige Radler warten schon in glühender Sonne. Sie ahnen noch nicht, welche Servicewüste sie hier betreten. Bedienung gibt es in „Corona Zeiten“ nicht, serviert wird nichts, denn es soll ja kein Spaß oder irgendeine entspannte Freude aufkommen, dem Zeitgeist gemäß soll man eher reduziert, ernsthaft und etwas spärlich sein Leben gestalten. So sieht die ganze Theresienwiese aus, spärlich und reduziert. Ein Anblick, der einen wahren Oktoberfestfan das Schaudern lehrt, der Platz des fröhlichen Rausches, eine dürre, trockene Ebene. Leere statt Fülle, Nüchternheit statt rauschhafter Freude, ernste Mienen statt Ausgelassenheit, Singen und Lachen. Ein Graus!

Ich gebe meinen schattigen Palmenplatz schließlich auf, mag die Bavaria aus meinem Blickwinkel gesehen, von Palmen umrahmt vor ihrem Tempel stehend, noch so exotisch wirken, wie eine Erscheinung aus südlichen Gefilden. Ich entscheide mich für eine Eisdiele in der Nähe, da sitze ich zwar nur unter Pappeln und nicht unter Palmen, aber dafür gibt’s frisches Wasser und zahlreiche Köstlichkeiten italienischer Konditoren mit freundlicher Bedienung und einem lächelnden „buon girono“. Es gibt zwar keinen Blick auf einen Meeresstrand, aber auch keinen Blick aufs Schottermeer. Der Anblick der leeren Theresienwiese ist schwerer zu ertragen, als gar nicht erst hinzugehen. In diesem Fall ist das „Wegschauen“ heilsam und die „Verdrängung“ eine wunderbare Eigenschaft der Seele. Kompensieren lässt sich das unbefriedigende Erlebnis der „Palmenwiesn“, wenigsten vorübergehend, mit Spaghettieis und Cappuccino unter Pappeln an der rauschenden Ausfallstraße. Augen zu und das Eis auf der Zunge zergehen lassen und das Blätterrauschen der Pappeln wird zur Meeresbrandung und die Münchner Verkehrshektik zu italienischem Hupen und Motorengeknatter – fast wie im Urlaub.